Else Lasker-Schüler und Elberfeld
Sie fasziniert noch heute, in einer Zeit weitgehender Utopielosigkeit: Else Lasker-Schüler (1869 – 1945) hat ihre Inszenierungen gelebt. Werk und Künstlerin waren stets eins, nachdem sie die Fesseln der Bürgerlichkeit abgestreift hatte. Sie war und ist und hat ein Gesamtkunstwerk hinterlassen: androgyn, mit wechselnden Identitäten wie Prinz Jussuf von Theben, Tino von Bagdad, Abigail, Blauer Jaguar, Indianer, Dichterin Arabiens usw. Als Performerin war sie eine Art Vorgängerin von Lady Gaga, Elton John, David Bowie oder Marina Abramović. Sie verkörpert Popkultur. Ihre Lyrics sind zeitloser Blues.
Mit drei Theaterstücken wie der Arbeiterballade „Die Wupper“ (die sie ihrer Geburtsstadt gewidmet hat),dem christlich-jüdischen Versöhnungsstück „Arthur Aronymus und seine Väter“ sowie ihrem politischsten Bühnenwerk über deutsche Hoch- und Unkultur „Ichundich“, vor allem jedoch mit ihren unverwechselbaren (mehr als 500) Gedichten und Romanen hat sie Kunst gelebt. Auch mit ihren Zeichnungen, die von den Nazis als „entartet“ aus der Berliner Nationalgalerie entfernt wurden. Filme, die sie drehen wollte, hat sie als Jüdin nicht machen dürfen. Mehr als 450 Komponisten haben sie zur meistvertonten deutschsprachigen Lyrikerin gemacht. Ihr Werk, ihre Person, Mode, Sprache, Bilder und Haltung sind Botschaft: Als Absenderin war sie stets Teil aller ihrer Arbeiten und Inszenierungen: Leben, Kunst und Alltag umfassend. Politisch wie ästhetisch verbunden als Teil einer frühen Emanzipationsbewegung und selbstbestimmer weiblicher Sexualität. Gegen Spießbürgerlichkeit, Diskriminierung von Homosexuellen, mit dem Recht auf Abtreibung und für Versöhnung zwischen Juden, Christen und Muslimen, denn „Hass schachtelt ein, wie hoch die Flamme auch mag schlagen!“
11. Februar 1869:
Elisabeth Schüler wird als Tochter des jüdischen Privatbankiers Aron Schüler und dessen Frau Jeanette in Elberfeld im Haus Herzogstraße 29 / Ecke Bankstraße geboren. Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Im wiederaufgebauten Haus befand sich jahrelang die Buchhandlung Nettesheim (heute ein Blumengeschäft). An der Hauswand informiert seit 1991 eine Bronzetafel mit einigen biografischen Daten über die Dichterin und ihrem Gedicht Weltflucht:
Ich will in das Grenzenlose / Zu mir zurück, / Schon blüht die Herbstzeitlose /
Meiner Seele, / Vielleicht ists schon zu spät zurück. / O, ich sterbe unter euch! /
Da ihr mich erstickt mit euch. / Fäden möchte ich um mich ziehen / Wirrwarr endend! /
Beirrend, / Euch verwirrend, / Zu entfliehn / Meinwärts.
Dieses Gedicht war die Inspiration für das Denkmal, das der Münchner Künstler Stephan Huber 1989 im Auftrag der Stadt Wuppertal geschaffen hat: Zwei Stelen aus schwarzem Granit, die sich gegenüberstehen. In Mosaikform schaut sich die Dichterin selbst an, gestaltet nach einem Foto von 1919/20: mit 28.000 Steinchen in 19 zarten, kaum sichtbaren Farbtönen. Auf der Granit-Bodenplatte (245 x 365 cm) steht lediglich ELSE LASKER-SCHÜLER: MEINWÄRTS
Für die Errichtung des Denkmals zum 100. Geburtstag der Dichterin hatte sich Heinrich Böll stark gemacht. Es befindet sich gegenüber dem Haus Herzogstraße 42, dem Sitz der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, die 1990 gegründet wurde. Das Haus gehörte einst ihrem Vater. Hier hat sie nach ihrer Heirat 1894 mit dem Arzt Dr. Berthold Lasker einige Monate gelebt, bevor das Ehepaar noch im selben Jahr nach Berlin zog. Es war ihr letzter Wohnsitz in Elberfeld. Die ELS-Gesellschaft hat ihr Büro im ersten Stock werktäglich geöffnet, BesucherInnen sind immer willkommen zu einer kleinen Führung, einer Tasse Tee oder Kaffee, auch wenn die Malerpoetin behauptete, „… ich mag keinen Bohnencafé“. Das war wohl eher ihrer Armut in Berlin geschuldet.
Nahebei, in der Kolpingstraße 8, befindet sich die Stadtbibliothek mit dem Else Lasker-Schüler-Archiv, unterstützt von der ELS-Gesellschaft mit Dauerleihgaben wie Fotos, Briefen, Postkarten und einer Replik der Totenmaske der Dichterin, Erstausgaben ihrer Bücher, Übersetzungen ihrer Gedichte, Drucke, Quellentexte, Dissertationen, Partituren ihrer vertonten Lyrik, Fotos, Programmzettel, Verlagsprospekte u. v. a. m. Nach Voranmeldung kann man das Archiv besuchen: Stadtbibliothek 563-2762, Herr Pilling; Thomas.Pilling@stadt.wuppertal.de
Unweit davon befindet sich der Laurentiusplatz – hier erlebte sie als Schülerin Antisemitismus mit Rufen wie „Hepp, hepp, Jud, hast Speck gefreten, spuck ut, spuck ut“. Es ist aber zugleich Schauplatz eines Textes von Else Lasker-Schüler mit dem Titel „St. Laurentius“. Sie schildert, wie sie hier als Kind „Knippen“ spielte (Spiel mit Murmeln oder Glaskugeln), wie die Jungen, Gymnasiasten und Realschüler, lebensgefährlich auf den Dächern saßen.
1910 besuchte die in Berlin längst berühmt gewordene Dichterin Elberfeld – Wuppertal gibt es als Städtenamen erst seit 1929 im Zuge einer Gebietsreform – und notierte enttäuscht: „Niemand hat mich wiedererkannt!“. Aber manche Bürger wechselten die Straßenseite, um der seltsam kostümierten Frau mit der damals ungewöhnlichen Kurzhaarfrisur nicht direkt begegnen zu müssen. Übrigens: Einmal gingen drei merkwürdige Gestalten durch Elberfeld: „Prinz Jussuf“ im (bei Frauen noch recht ungewohnten) Hosenanzug und Talmischmuck, ein Mann mit fast kahlem Kopf und dünnem Haarkranz im bodenlangen Mantel wie aus einem Wildwestfilm, der andere mit Hut und kanarienvogelgelben Schnabelschuhen: Else Lasker-Schüler, ihr zweiter Ehemann Herwarth Walden und der Maler Oskar Kokoschka. Sie stopften die expressionistische Zeitschrift „Der Sturm“ in die Briefkästen, um Leser zu gewinnen.
Die Geschichte ist verbürgt, während andere von ihr erzählte Histörchen nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen müssen, etwa wenn sie behauptete, in Elberfeld, in Theben geboren, bis 11 Jahre zur Schule gegangen zu sein und dass sie seitdem wie Robinson vegetiere.
Überliefert ist, dass sie das Lyzeum West – heute Ecke Bundesallee/Alsenstraße – besucht hat. „Elsken“ selbst spricht von der Höheren Töchterschule an der Aue als „Schornstein-Schule“: „Der Direktor Schornstein kam nämlich auch immer so unverhofft in die Klasse mit der Tabakspfeife im Munde, um zu kontrollieren. Mir fielen die endlich kapierten Rechenaufgaben wieder in den Magen zurück, und ich schluckte und schluchzte, und ich kam in die Ecke.“
Die Reaktion des Mädchens in der Vorpubertät auf die antisemitischen Vorfälle führte möglicherweise zu einer Erkrankung. Danach ist sie angeblich von der Schule genommen worden und habe Unterricht von einem Hauslehrer bekommen. Sicher ist, dass das aufgeweckte Kind, das angeblich schon lange vor der Einschulung lesen und schreiben konnte, von der Mutter sehr intensiv betreut und gefördert wurde. Elisabeth war das sechste und letzte Kind ihrer Eltern.
Weiter westlich, am Haus Sadowastraße 7, verkündet eine kleine Bronzetafel etwas unzureichend, dass hier „die große deutsche Lyrikerin“ Else Lasker-Schüler Kindheit und Jugend verlebt habe. Dass dieses Wohnhaus, das einer türkisch-deutschen Familie gehört, kein Dichterhaus ist, bedauert die Else Lasker-Schüler-Gesellschaft zutiefst. Sie hatte sich für diese Lösung eingesetzt.
Die Eltern Jeanette und Aron Schüler sowie Elses Lieblingsbruder Paul sind auf dem Jüdischen Friedhof Weißenburgstraße beigesetzt.
Als Dichterin schildert ELS „Elberfeld im 300-jährigen Jubiläumsschmuck“, spricht von der Schwebebahn als „Bahnschiff“ und „stahlhartem Drachen“, nennt den einst umweltbelasteten heimatlichen Fluss „Teufelsouce“ und setzt ihm mit ihrem ersten Theaterstück DIE WUPPER ein Denkmal. Angeblich in einer einzigen Nacht und zunächst auf Bergisch Platt verfasst, flunkert sie. Es wurde am 27. April 1919 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt. Die Bühnenmusik hat übrigens Friedrich Hollaender geschrieben, der später die berühmten Marlene Dietrich-Schlager für den Film „Der Blauen Engel“ schuf. Hollaender war ein Fan von ELS; seine Partitur zur WUPPER ist verloren, vermutlich von den Nazis vernichtet, denn der Komponist war Jude wie die Autorin. Als ihre WUPPER zum ersten Mal in der Heimatstadt aufgeführt werden sollte, nämlich zur Eröffnung des Schauspielhauses in Elberfeld am 24. September 1966, da wurde es vom Spielplan abgesetzt, weil man es dem damaligen Bundespräsidenten und Ehrengast Heinrich Lübke nicht zumuten wollte. Zu sexistisch, zu freizügig. Es wurde dann erst einen Tag später gespielt.
Heute gibt es eine Else Lasker-Schüler-Straße und eine nach ihr benannte Gesamtschule. Es scheint, als sei die in Sonntagsreden gern als „große Tochter der Stadt“ gefeierte Künstlerin endlich angekommen in ihrem Dada-„Elbanaff“, von dem sie einst behauptet hat: „Ich bin verliebt in meine zahnbröckelnde Stadt“.
Text: Hajo Jahn
Vorsitzender der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft Wuppertal
Initiator des Zentrums für verfolgte Künste
Weitere Stationen im Lebensweg von Else Lasker-Schüler:
- August 1894: Umzug nach Berlin mit ihrem 1. Ehemann, Dr. Jonathan Berthold Barnett Lasker – Scheidung im April 1903
- 24.08.1899: Geburt ihres einzigen Kindes (Sohn) – 1899-1927; der Tod des Sohnes stürzte Else Lasker-Schüler in eine tiefe Krise
- 1903: Eheschließung mit Georg Lewin (Herwarth Walden) – 1912 Scheidung
- 1933: nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, tätlichen Angriffen und Bedrohungen
Emigration nach Zürich, verbunden mit einem Arbeitsverbot; Reisen nach Palästina - 1937 / 1938: alle ihre Schriften werden von den Nationalsozialisten verboten („Liste 2 der Anordnung des Präsidenten der Reichsschriftkammer über schädliches und unerwünschtes Schrifttum“)
- 1938: Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit
- 1939: 3. Reise nach Palästina und Übersiedelung nach Jerusalem, weil sie kein Visum mehr für die Schweiz bekam. „Ehrenrente“ hälftig von der Jewish Agency und dem Verleger Salman Schocken, was ihr eine einigermaßen gesicherte finanzielle Existenz ermöglichte
- Die Zeit in Jerusalem war auch geprägt von Krankheiten. Sie war oft verzweifelt, auch weil sie viele Freunde und Wegbegleiter durch den Holocaust verloren hatte
- Else Lasker-Schüler starb am 22.01.1945 nach einem Angina pectoris-Anfall im Hassada Krankenhaus in Jerusalem. Beisetzung auf dem Jüdischen Friedhof auf dem Ölberg in Jerusalem am 23.01.1945
Quellen (und zur weiteren Vertiefung):
Fotos, Gedicht: alle Rechte Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft
www.else-lasker-schueler-gesellschaft.de
https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/else-lasker-schueler/ (Stand: 29.09.22)
https://de.wikipedia.org/wiki/Else_Lasker-Schüler (Stand: 29.09.22)
Trägerverein Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V. (Hg.) mit Unterstützung des Kulturbüros der Stadt Wuppertal und mit freundlicher Genehmigung des Jüdischen Verlags im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 2003: „Niemand hat mich wiedererkannt“ – ausgewählt und kommentiert von Dr. Schrader, Ulrike
Birthälmer, Antje (Hg.): Else Lasker-Schüler, „Prinz Jussuf von Theben“ und die Avantgarde, Ausstellungskatalog Von der Heydt-Museum Wuppertal 2019