Foto: © Mit frdl. Genehmigung der Achterland Verlagscompagnie und George Sonnenfeld, Florida
Herta Sonnenfeld
Schätzungsweise etwa 25.000 Juden und Jüdinnen wurden nach 1940 in den Niederlanden versteckt, circa 9000 von ihnen wurden bei Razzien oder durch Verrat von den Deutschen aufgespürt.1 Unter den Versteckten befanden sich zwischen vier- und sechstausend Kinder – die sogenannten ‚Hidden children‘: Viele von diesen wurden von den Nazis nicht entdeckt.2
Von einem dieser überlebenden Kinder berichtet Herta Sonnenfeld, die die Geschichte ihrer Familie und sich selbst in der Autobiografie ‚Stufen zur Freiheit‘ aufzeichnet3– ein bemerkenswertes Zeitdokument.
Die Familie Herta Glasers (später Sonnenfeld) beginnt in Wuppertal ihr Leben als kleine ‚Patchworkfamilie‘, wie wir heute sagen würden:
Hertas Vater, der Kaufmann Hermann Glaser, hatte zunächst Emma Rothschild geheiratet, die mit nur 34 Jahren starb und zwei Kinder hinterließ. Hermann Glaser zog daraufhin 1903 von Remscheid nach Barmen und eröffnete ein Handelsvermittlungsgeschäft. Im Februar 1904 heiratet er erneut, die 18 Jahre jüngere Martha Raphael, deren Eltern in Barmen ein Geschäft für Manufakturwaren betreiben.
Hermann und Martha Glaser wohnen zunächst in der Stennertstraße 5, wo 1905 Max und am 18.05.1908 Herta geboren werden.
1914 ziehen sie erneut um, in die 3. Etage im Barmer Eckhaus Bredder Straße 99 (heute: Bredde / Berliner Straße), das bis vor nicht langer Zeit am Wupperfelder Markt das Orientteppich- und Kunstgewerbegeschäft Haus Schwarzkopf beherbergte.4
Hier wächst wohlbehütet Herta heran. Schon früh lernt sie Werner Sonnenfeld kennen, dessen Vater Leo in Elberfeld ein recht gut florierendes Feilen- und Metallunternehmen besitzt. Im Oktober 1928 heiraten Herta und Werner.
Noch scheinen auf beiden die ‚goldenen zwanziger Jahre‘, und sie genießen die Zweisamkeit und das gemeinsame Reisen, aber zunehmend müssen sie den anwachsenden Antisemitismus erleiden. Leo Sonnenfeld ernennt 1933 seinen Sohn Werner zum Alleininhaber der Firma, der Firmensitz wird nach Paris verlegt und das junge Ehepaar zieht zunächst nach Frankreich. Herta wird jedoch schwanger und möchte wieder zurück nach Deutschland, im Frühjahr 1934 kehren sie nach Wuppertal zurück.
Am 30.06.1934 wird Günter Sonnenfeld geboren.
Nach einem Kaiserschnitt erfolgt eine längere Genesungszeit für Herta Sonnenfeld.
Die Judenverfolgung erstarkt weiterhin stetig – bis hin zur Reichsprogromnacht am 9. November 1938.
Nach dieser wird Werner Sonnenfeld verhaftet. Durch Verbindungen gelingt es Werners Vater Leo, die Entlassung für seinen Sohn zu erwirken, bevor dieser mit anderen Verhafteten ins KZ Dachau gebracht wird. Bedingung für die Freilassung ist, dass Werner Deutschland so schnell wie möglich verlässt. Ohne Pass/Visum gestaltet sich das aber als fast unmöglich. Durch Bestechung ermöglicht es Leo Sonnenfeld, seinen Sohn über die Grenze zu bringen – als Geschäftsmann muss Werner Sonnenfeld aber alleine gehen. Herta wird mittlerweile gesucht, und sie lässt ihr Kind zunächst bei den Schwiegereltern zurück und fährt mit dem Zug nach Berlin zu Freunden. Es gelingt dann durch einen Kontakt und Vorauszahlung von 5000 Mark sowie Rückkehr nach Wuppertal, mit ihrem Sohn über Luxemburg und Belgien nach Holland geschmuggelt zu werden. Sie darf nur 10 Mark in bar, keinerlei Wertsachen und nur die Kleider mitnehmen, die sie auf dem Körper trägt. Sie zieht deshalb Unterwäsche und Kleider doppelt an. Im Schnee und in Eiseskälte gelingt die abenteuerliche, insgesamt 5 Tage lang dauernde Reise nach Amsterdam, zu ihrem Mann.
Nach sieben Wochen müssen sie jedoch in ein Internierungslager umziehen. Anfang Juni 1939 müssen sie das Lager wechseln, in ein Lager in Rotterdam. Sie besitzen nach wie vor kein Affidavit5 für die USA, Werner hat jedoch mit Hilfe des jüdischen Komitees6 Arbeit gefunden – eine Rettung. Durch diese Arbeitsstelle werden sie nicht weitertransportiert, sondern die Internierung wird im März 1940 aufgehoben.
Im Mai 1940 beginnt die deutsche Invasion der Niederlande. Rotterdam wird aufs Fürchterlichste bombardiert und die Sonnenfelds evakuieren in den Westteil der Stadt. Nach erneuten schlimmen Bombardierungen kapitulieren die Niederlande am 14. Mai. Allein in Rotterdam verlieren etwa 30.000 Einwohner ihr Leben und etliche Juden begehen Selbstmord.
Sie planen, von Hoek van Holland nach England überzusetzen, aber die Küsten sind mittlerweile vermint. Es gelingt ihnen, zu Hertas Bruder Max und seiner Frau Ilse nach Scheveningen zu kommen, die bereits 1934 in die Niederlande ausgewandert waren. Max arbeitet aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit.
Der Kontakt zu den verbliebenen Großeltern in Deutschland wird nach langer Zeit wieder möglich – Hertas Mutter hatte einen Schlaganfall erlitten, nachdem an Herta gerichtete Post mit dem Vermerk ‚Haus steht nicht mehr, Bewohner verstorben‘ zurückgesandt worden waren.
Eine kurze Zeit gelingt ein kleines Aufatmen, Günter kann sogar zur Schule angemeldet werden – bereits am fünften Schultag, im September 1940, erhalten sie aber die Nachricht, dass alle Juden in Rotterdams Küstennähe ins Landesinnere ziehen müssen. Sie ziehen nach Amersfoort. Günter besucht kurz die Schule, bevor Juden dann endgültig der herkömmliche Schulbesuch untersagt wird, es entstehen deshalb kleine Schulen für jüdische Kinder.
Die Briefe der Großeltern an die junge Familie Sonnenfeld sind herzzerreißend. Sie sind mitunter illustriert von Leo Sonnenfeld.
Brief von Leo Sonnenfeld an seinen Enkel Günter (zur Vergößerung bitte klicken)7
Leo Sonnenfelds letzter Wohnort ist das sog. ‚Judenhaus‘ in der Bleichstr. 22, Elberfeld/Wuppertal (heute Bundesallee/Ecke Morianstraße), in das er mit seiner Frau Hedwig umziehen musste. 1942 werden er und Hedwig nach Theresienstadt deportiert. Leo Sonnefeld stirbt dort im Oktober 1942, seine Frau im März 1943.
In einem der letzten Briefe schreibt Leo Sonnenfeld an seinen Enkel:
„Mein lieber kleiner Junge![…]
Dann willst du wissen, wann ich Dir die kleine Eisenbahn sende, nun, ich nehme an, Du willst [so] eine haben, wie ich unten eine Zeichnung machte, aber Du willst doch eine elektrische Eisenbahn und die ich unten zeichnete, ist noch eine mit Rauch, ja, mein liebes Kind, es wird wohl noch eine gute Weile dauern, ehe ich in der Lage sein werde, Dir Deinen kleinen Wunsch erfüllen zu können, und ich will ehrlich sein, ich weiß unter den obwaltenden Verhältnissen überhaupt nicht, ob ich jemals noch mein Wort hinsichtlich der kleinen Eisenbahn werde einlösen können. Du bist ja ein vernünftiger Junge geworden, wirst die Worte, die ich hier niederlege, sicherlich schon verstehen, denn wenn jemand so alt ist wie ich, wenn man 5 Minuten vor 72 Jahre ist, soll man eigentlich solchen kleinen Jungen nichts mehr versprechen, denn fast sieht es so aus, als ob ich niemals werde mein Versprechen können. […] … ich grüße und küsse Dich in Liebe
Dein Opa“
Leo und Hedwig Sonnenfeld8
Auch von Käte und Martha Glaser sind einige Briefe überliefert.9 Sie gingen davon aus, dass sie am 10. November 1941 nach Litzmannstadt (Lodz) deportiert werden sollten: „Wir reisen mit der fast ganzen Wuppertaler Gemeinde“10. Doch es handelt sich um den Deportations-Zug nach Minsk.11
Auch in den Niederlanden werden tagtäglich Juden deportiert, weshalb Werner Sonnenfeld einige Monate als vermeintlicher Patient ins Krankenhaus gebracht wird, bis auch das zu gefährlich wird.
Werner wird bei einem Bauern versteckt, der achtjährige Günter bei einem älteren Ehepaar in einem abgelegenen Haus bei Amersfoort, und Herta findet einen Unterschlupf in relativer Nähe zum Sohn und wechselt später in ein weiteres anderes Versteck.
Mit Hilfe der Untergrundbewegung findet sich für Günter eine neue sicherere Bleibe, auf dem Bauernhof von Sip und Griet de Boer in der Nähe der Ortschaft Hommerts bei Sneek. Günter werden die Haare blond gefärbt. Sie werden Günter, ihn wie ihr eigenes Kind behandelnd, bis zum Kriegsende beherbergen.
Herta erfährt, dass ihr Mann entdeckt und deportiert worden war. Ein kleines Kind durfte seine Eltern, mit denen Werner Sonnenfeld zusammen versteckt worden war, einmal wöchentlich besuchen und ‚verriet‘ nichtsahnend einem Nationalsozialisten, wohin es immer ginge. Das Versteck flog auf. Werner Sonnenfeld stirbt 1944 in Ausschwitz.
Herta muss in ein weiteres Versteck in Arnheim, zusammen mit 14 anderen Jüdinnen und Juden. Hunger, Kälte, Wassernot sind Folgen des Krieges, der sich dem Ende nähert, die Gruppe ist vor dem Verhungern. Am 16. April 1945 endet endlich in diesem Abschnitt der Niederlande der Krieg, die kanadischen Truppen werden mit Jubel begrüßt.
Herta und ihr Sohn Günter haben überlebt.
Im Januar 1949 siedeln sie und Günter12 in die USA über. Herta Sonnenfeld heiratet später Leo Eis.
16 Jahre nach Kriegsende schreibt Herta Sonnenfeld ihre Biografie, die ein außerordentliches Zeitdokument darstellt. Sie verstirbt 79jährig am 13.12.1987 in New York.
Text: Uta Kroder
Stammbaum der Familie Sonnenfeld / Glaser: Uta Kroder
Verortung:
Verortet wird Herta Sonnenfeld am ehemaligen Eckhaus Bredder Straße 99 (heute: Bredde / Berliner Straße) am Wupperfelder Markt in Barmen.
Quellen:
Alle Fotos / Texte:
Mit frdl. Genehmigung der Achterland Verlagscompagnie, http://www.achterland.org und George Sonnenfeld, Florida
Mailverkehr mit George Sonnenfeld, Florida; Dank auch an Stephan Stracke, Verein zur Erforschung der sozialen Bewegungen im Wuppertal e.V.
Sonnenfeld, Herta: Stufen zur Freiheit. Die Geschichte meines Lebens. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Christoph Knüppel. Bocholt; Bredevoort: Achterland Verlagscompagnie, 1998 (Verfolgung und Widerstand im Wuppertal; Bd.1).
1 https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_in_den_Niederlanden
2 https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/hidden-children-quest-for-family | United States Holocaust Memorial Museum
3 Sonnenfeld, Herta: Stufen zur Freiheit. Die Geschichte meines Lebens. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Christoph Knüppel. Bocholt; Bredevoort: Achterland Verlagscompagnie, 1998 (Verfolgung und Widerstand im Wuppertal; Bd.1).
4 Seit neuerer Zeit Ali Baba Supermarkt
5 Bürgschaft eines Bürgers des Aufnahmelandes für einen Einwanderer
6 Das nach Hitlers Machtübernahme gegründete ‚Comité voor Bijzondere Joodse Belangen‘
7 Stufen zur Freiheit, ebd., S. 58
8 Stufen zur Freiheit, ebd., S. 32
9 Letzter Wohnort von Käte und Martha Glaser´ war das sog. ‚Judenhaus‘ in der Deutschherrenstraße 19 (heute Elias-Eller-Straße) in Ronsdorf. Ein von ihr namentlich innen gekennzeichneter Koffer von Käte Glaser wurde der Begegnungsstätte Alte Synagoge übergeben. (s. Schrader, Ulrike: Fundstücke aus dem dritten Reich – Rekonstruktionen, hrsg. im Auftrag des Trägervereins Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V., Trägerverein Begegnungsstätte Alte Synagoge, Wuppertal, 2016)
10 Marta und Käte Glaser an Max und Ilse Glaser (Utrecht), 5.11.1941, Stufen zur Freiheit, ebd. S. 62
11 Der Zug nach Minsk von Wuppertal Steinbeck am 10.11.1941 deportierte 242 Jüdinnen und Juden aus Wuppertal, hinzu kamen Jüdinnen aus Remscheid, Velbert, Wülfrath (und schon zuvor Jüdinnen und Juden aus Düsseldorf und Essen). Von allen 997 Deportierten überlebten nur fünf.
12 Günter wird später umbenannt in George. George Sonnenfeld lebt in guter Gesundheit in Florida.