Foto: © BArch, BildY 10-1384-1921,
mit freundlicher Genehmigung des Bundesarchivs
Helene Stöcker
Helene Stöcker wurde am 13.11.1869 in Elberfeld als älteste von fünf Töchtern des Textilfabrikanten Ludwig Stöcker geboren. Das Elternhaus war streng religiös, geprägt von der rigiden Frömmigkeit des Calvinismus. Nach Beendigung der Höheren Töchterschule setzte sich Helene Stöcker gegen ihre Eltern durch und konnte in Berlin das Lehrerinnenexamen ablegen. 1893 veröffentlichte sie ihren Aufsatz Die moderne Frau, in dem sie erstmals über die finanzielle Unabhängigkeit vom Ehemann als Voraussetzung für ein erfülltes und freies Leben der Frauen und für eine partnerschaftliche Beziehung der Geschlechter plädierte. Sie absolvierte den Gymnasialkurs bei Helene Lange und engagierte sich gleichzeitig in der Frauenbewegung. Als 1896 in Berlin Frauen als Gasthörerinnen an der Universität zugelassen wurden, gehörte Helene Stöcker zu den ersten Studentinnen der deutschen Literatur und Philosophie. Sie gründete den Verein studierender Frauen, die regelmäßig Vorträge anboten. Da den Frauen noch ein Abschluss verwehrt war, wechselte sie nach Bern und promovierte 1901 als erste Deutsche im Fach Germanistik.
Gemeinsam mit den Sozialdemokratinnen Lily Braun und Adele Schreiber-Krieger, der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, den Soziologen Werner Sombart und Max Weber, dem Sexualwissenschaftler Max Marcuse und der Lehrerin Maria Lischnewska vom Verband fortschrittlicher Frauenvereine gründete Stöcker 1905 den Bund für Mutterschutz und Sexualreform. Die konzeptionelle Basis des Bundes bildete die von Helene Stöcker entwickelte Idee der ‚Neuen Ethik‘. In Anlehnung an Friedrich Nietzsches Idee von der Umwertung aller Werte forderte Stöcker eine Neubestimmung der Sexualmoral. In der körperlichen Liebe sah sie expressis verbis kein Laster und forderte das Recht auf sexuelle Lust und auf sexuelle Selbstbestimmung der Frauen über ihren eigenen Körper, unabhängig davon, ob sie Männer oder Frauen liebten. Sie war die erste Frau, die sich für die Abschaffung des 1871 eingeführten § 175 öffentlich stark machte. Dieser stellte homosexuelle Beziehungen zwischen Männern unter Strafe. Das Magnus-Hirschfeld-Institut für Sexualwissenschaften war ein enger Kooperationspartner des Bundes.
Von 1905 bis 1931 lebte sie mit dem Berliner Rechtsanwalt Bruno Springer, immer in zwei Wohnungen, auf einem Flur. Er ermöglichte nach seinem Tod mit seinem Vermögen die persönliche Existenz von Helene Stöcker und die Fortführung des Bundes. Er war es, der die Forderung nach Gleichstellung unehelicher und ehelicher Kinder für ein Gesetz formulierte. Für ledige Mütter richtete der Bund Heime ein. Stöcker engagierte sich nicht nur für frühzeitige Sexualaufklärung und den Zugang zu Verhütungsmitteln, sondern auch für die Legalisierung des selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruchs. Helene Stöcker war von 1908 bis 1933 Schriftleiterin der Zeitschrift des Bundes Die Neue Generation.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschütterte Helene Stöcker und alle Aktiven der Friedensbewegung, die an den Fortschritt der Menschheit und an eine Höherentwicklung von Kultur und Moral geglaubt hatten. Stöcker nahm am Internationalen Frauen-Friedenskongress Ende April 1915 mit 1136 Teilnehmerinnen aus zwölf Nationen in Den Haag teil, dessen Hauptforderung die nach der Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofs zur Ahndung von Kriegsverbrechen war. Stöcker widmete sich von nun an schwerpunktmäßig der Verhinderung von Krieg. Dieses Engagement setzte sie auch nach Kriegsende fort. Ihrer Ansicht nach konnte es „kein wahres und individuelles, kein Liebes- und Elternglück“ geben, „solange die Grundlagen unseres staatlichen Lebens untergraben und zerrüttet sind.“1 Zusammen mit anderen pazifistisch orientierten Radikalen wie Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg vertrat sie die Vorstellung des von Natur aus friedfertigen Wesens der Frau und folgerte daraus, dass allein eine größere Beteiligung der Frauen an der Macht künftige Kriege vermeiden könne.
Als sie am 13. November 1929 ihren 60. Geburtstag feierte, war die Frauenrechtlerin und Pazifistin auf dem Höhepunkt ihrer Popularität. Rund 400 Zeitschriften im In- und Ausland würdigten ihre Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits krank und musste ihre Agitationsreisen, die sie immer durch ganz Europa geführt hatten, einschränken. Mit Sorge verfolgte sie den Aufstieg der Nationalsozialisten. Nach dem Reichstagsbrand flüchtete die 63-Jährige aus Deutschland, ihr Eigentum wurde von den Nazis wegen der jüdischen Herkunft ihres langjährigen Lebensgefährten eingezogen. Über die Tschechoslowakei, die Schweiz, England, Schweden, die Sowjetunion und Japan kam sie mit finanzieller Unterstützung durch die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit in die USA. Mit Rosika Schwimmer aus Ungarn, nunmehr Vizepräsidentin der Liga, verband sie seit dem Berliner Frauenstimmrechtskongress eine Freundschaft, die ihr diese Unterstützung ermöglichte. Am 23. Februar 1943 starb Helene Stöcker nach langer Krebserkrankung im New Yorker Exil. Ihre unvollendete Autobiografie liegt im Archiv der Quäker im Swarthmore College nahe Philadelphia. Sie ist 2015 im Böhlau Verlag erschienen.
Text: Christl Wickert (Berlin / Zernien)
Fotos: © BArch, BildY 10-1384-440-74 und BArch, BildY 10-1384-1762-84,
mit freundlicher Genehmigung des Bundesarchivs
Quellen:
Christl Wickert, Helene Stöcker 1869-1943. Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin, Bonn 1991
1 Helene Stöcker: Mutterschutz und Pazifismus, in: Neue Generation 15 (1919) H. 2, S. 61-68, hier S. 67.
Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiografie einer frauenbewegten Pazifistin. Böhlau Verlag, Köln 2015.
Verortet im Stadtplan ist Helene Stöcker am Helene-Stöcker-Denkmal vor der Bergischen Volkshochschule, Auer Schulstraße 20, das von Ulle Hees begonnen und von Frank Breidenbruch fertiggestellt wurde.