Foto: © Lotte Landé, 1905, Familienbesitz Landé,
mit freundlicher Genehmigung
Charlotte Landé, verh. Czempin
Dass sie studieren durfte, war ihr nicht in die Wiege gelegt worden, galt doch noch um 1900 für das weibliche Geschlecht die gesellschaftliche Auffassung von der „angeborenen Mütterlichkeit“ und der „natürlichen Rolle als Hausfrau und Mutter“. Mädchen und Frauen seien zur höheren Bildung und zum Studium nicht fähig, es „schade“ ihnen gar.1
Charlotte (genannt: Lotte) Landé2 wurde am 25. Mai 1890 als erste Tochter und zweites von sechs Kindern des Rechtsanwalts Hugo Landé und seiner Frau Thekla3 in der damals bedeutenden Textilindustriestadt Elberfeld geboren.
Sie wuchs in einer gutbürgerlichen Familie mit Hauspersonal auf, die besonderen Wert auf Bildung und aufs Musizieren legte. Die Eltern engagierten sich in der SPD, in der Frauenbewegung und in der Kommunalpolitik. Sie verbrachten viel gemeinsame Zeit mit den Kindern – z.B. bei (wissenschaftlichen) Gesprächen, Unternehmungen und den Hausmusikabenden.
Lotte beschreibt ihre Kindheit und Jugend als sehr glücklich und liebevoll, konfessionslos, aber nicht unreligiös:
„Genau wie das alle Sozialisten in jeder Zeit gemacht haben, traten auch meine Eltern aus ihrer Kirche aus, das war die Synagoge … Aber das bedeutet nicht etwa unreligiös, sondern meinem Gefühl nach sind wir besonders religiös erzogen worden. Wir sind dazu erzogen worden, duldsam zu sein, anderen Menschen zu helfen und immer die Wahrheit zu sagen und nichts Schlechtes über andere Menschen zu reden. Und das hat mehr mit Religion zu tun als das übliche Dogma.“4
Als „atheistisches“ Kind mit jüdischen Wurzeln und sozialdemokratischen Eltern spürte sie schon früh gesellschaftliche Ausgrenzungen und Anfeindungen, fand in ihrem Elternhaus aber Mut und Selbstvertrauen.
Wie es für bürgerliche Mädchen ihrer Zeit üblich war, besuchte sie die höhere Mädchenschule an der Aue, aber nicht bis zum Schluss, denn dank der Tatkraft ihrer Mutter ging ihr Bildungsweg mit der Teilnahme an einem „Realgymnasialkurs“5 ab 14 Jahren in eine andere Richtung:
„Es gab noch kein Mädchen-Gymnasium … in Wuppertal. Wenn die Mädels studieren wollten, dann mussten sie in die Schweiz gehen. Meine Mutter … hat sich gedacht, dass ich nicht die einzige bin, und nachdem ich statt zehn Jahre acht Jahre in die Töchterschule gegangen war, wurde ich aus der Töchterschule herausgenommen und meine Mutter hat in der ganzen Umgebung … nachgefragt, ob da noch andere Mädels sind, die gerne studieren möchten und da kamen schließlich zehn sehr begabte und strebsame Mädels zusammen und für die hat meine Mutter dann einen Privatkurs zusammengebracht. Nebenbei habe ich Geigenunterricht gehabt.“6
Nach dem externen Abitur 1909 in Remscheid, das sie mit hervorragenden Noten bestand wie auch später ihre universitären Prüfungen bis zur Promotion 1914, studierte Lotte Landé Medizin in München, Heidelberg und Berlin.7 Durch den steigenden Ärztemangel mit Beginn des Ersten Weltkriegs erhielt sie nach nur zweimonatiger Praktikumstätigkeit eine „Notapprobation“ (staatliche Zulassung als Ärztin) und konnte, obwohl von der männlichen Ärzteschaft nicht gerne gewollt, als Frau schnell leitende Positionen in Krankenhausabteilungen übernehmen.
Ihr Bruder Alfred, der in Göttingen Mathematik und Physik studierte, vermittelte ihr eine Assistentinnenstelle an der dortigen Kinderklinik, wo sie von 1915-1917 arbeitete und sich damit endgültig der Kinderheilkunde und Jugendmedizin (Pädiatrie) zuwandte.
Die Ausbildung zum Kinderarzt oder zur Kinderärztin war lange Zeit von den Ärzten nicht als notwendig angesehen worden und bis 1918 ungeschützt. Medizinisch ausgebildete Kräfte, meist Geburtshelfer, übernahmen die Versorgung der Kinder mit. Erst im Jahre 1918 wurde die Pädiatrie als eigenes Prüfungsfach in Deutschland zugelassen.8
Für die Pädiatrie interessierten sich besonders jüdische Mediziner und Medizinerinnen. Sie nutzten die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften, z. B. in der Bakteriologie oder Stoffwechselanalyse. Jüdische Kinderärzte und -ärztinnen hatten wenig Chancen, eine volle akademische Karriere zu verfolgen oder eine Anstellung an einer universitären Kinderklinik zu erhalten. Daher entstanden außeruniversitäre Einrichtungen. Zu den bedeutendsten gehörten das „Kaiser-und Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhaus“ (gegründet 1890) sowie das „Kaiserin Auguste Viktoria Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche“ (gegründet 1909), beide in Berlin und damals unter jüdischer Leitung. In beiden Anstalten war die Kinderärztin Lotte Landé zu unterschiedlichen Zeiten von 1917-1922 als einzige oder als eine der wenigen Frauen tätig, von 1920-1922 als Oberärztin am Breslauer „Städtischen Säuglingsheim und Kinderobdach“.
Die älteste Tochter der Familie Landé widmete sich einer speziellen Ausrichtung der Kinderheilkunde, der Sozialpädiatrie (allgemein eingeführt nach dem Zweiten Weltkrieg), und ging der Frage nach, wie soziales Milieu und Krankheit miteinander zusammenhängen. Die Ergebnisse hielt sie in zahlreichen wissenschaftlichen und auch allgemeinverständlichen Schriften (z.B. zu „Bettnässen“ oder „Ernährungsstörungen“) und Vorträgen fest.
1926 nahm sie mit dem Umzug nach Frankfurt am Main im dortigen Stadtgesundheitsamt die Stelle als außerplanmäßige Stadtassistenzärztin an und gehörte 1928 zu den ersten deutschen Ärztinnen, die zur Stadtärztin befördert wurden. Drei Jahre später folgte die Verbeamtung auf „Lebenszeit“. 1930 bezog sie mit 40 Jahren ihre erste eigene Wohnung.
Sie trat dem Verein „Sozialistische Ärztinnen“ und dem „Bund deutscher Ärztinnen“ bei. Zwischenzeitlich war sie Mitglied der SPD. Lotte organisierte Vortragsreihen zu sozialmedizinischen Themen wie „Tuberkulose und Armut“ und „Was die Frau von ihrem Körper wissen muss“. Sie sprach zu Themen wie Schwangerschaftsunterbrechungen und machte Studien zum Wohnungselend. Und sie publizierte weiterhin. Die Kinderärztin gehörte auch zu einem Frankfurter Streichquartett. Das Musizieren hatte sie nie aufgegeben.
Lotte Landé bezeichnete ihre Frankfurter Zeit als „wunderbare Jahre“ einer „außerordentlich interessanten, sehr arbeitsreichen und abwechslungsreichen Tätigkeit“. Diese hätte bis zur ihrer Pensionierung weitergehen können bei einem abgesicherten Lebensunterhalt, aber die politische Situation ab 1933 veränderte alles.
Mit ihrem Vortrag „Probleme der unverheirateten Frau“ am 5. Januar 1932 im Rahmen der Ausstellung „Frauen in Not“ – der ersten deutschen Kunstausstellung zum Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches – befürwortete sie die Möglichkeit für unverheiratete Frauen, sich sexuell befriedigen zu dürfen, wenn es ihrer Gesundheit gut tut. Damit stieß sie einen heftigen Diskurs in der Stadtverwaltung und den Parteien an. Auch wegen ihrer sozialmedizinischen Reise 1930 in die Sowjetunion mit der Besichtigung von dortigen medizinischen Einrichtungen wurde sie am 31. März 1933 als politisch unzuverlässig beurlaubt und am 8. August 1933 wegen jüdischer Abstammung auf Grund des nationalsozialistischen “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” entlassen. Sie verlor ihren Beamtenstatus.
Mit 44 Jahren heiratete sie den jüdischen, 26 Jahre alten Sänger und Kantor Herbert Czempin in Berlin, was sich trotz der Widerstände der beiden Elternhäuser als eine glückliche Beziehung herausstellen sollte. Lotte unterhielt nach ihrer Entlassung durch die Nationalsozialisten in Frankfurt und Berlin eine kleine Privatpraxis mit geringem Verdienst und lebte hauptsächlich mit ihrem Mann von ihren Ersparnissen. 1933 sah sie ihre Familie zum letzten mal in der Schweiz. 9
Bruder Alfred war bereits 1931 als Physikprofessor in die USA ausgewandert und konnte ihr ein „Affidavit“ (Immigrantenbürgschaft) verschaffen. Lotte reiste 1937 endgültig zu ihrem Bruder und ermöglichte auch ihrem Mann die Einreise. Der Familienname wurde in „Champain“ amerikanisiert.
Lotte arbeitete in den USA zunächst als Hilfskraft und Krankenschwester in verschiedenen Einrichtungen, bestand 1938 das Medical State Board Examination. Ab 1941 erhielt sie eine Festanstellung am State Hospital in Dixon, Illinois und 1943 die amerikanische pädiatrische Facharzt-Anerkennung. Die acht Jahre nach ihrer Pensionierung 1951 zählt sie zu den glücklichsten in Amerika. Sie bekam eine Pension aus Deutschland und eine Entschädigung aus Frankfurt am Main.
1959 kehrte das Paar im Gegensatz zu ihren Geschwistern nach Deutschland zurück, auch wegen der Kritik am amerikanischen politischen System. Die bedeutende Kinderärztin, die meist nur unter ihrem Mädchennamen Lotte Landé geführt wurde, starb am 19. September 1977 in Oberursel bei Frankfurt am Main im Alter von 87 Jahren an Darmkrebs.
Text: Elke Brychta
Quellen:
1 Das sollte auch die 1900 erschienene und mehrfach aufgelegte „wissenschaftliche“ Schrift des Arztes und Neurologen Paul Julius Möbius „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ beweisen.
https://de.wikipedia.org/wiki/… (Stand: 8.12.2022).
2 Daub, Ute; Lennert, Thomas: Charlotte Landé (1890-1977), in: Brychta, Elke; Reinhold, Anna-Maria; Mersmann, Arno: mutig.streitbar.reformerisch. Die Landés – Sechs Biografien 1859-1977, Essen 2004, S. 97-123. Böhm, Kristina: Die Kinderärztin Lotte Landé, verh. Czempin (1890-1977): Stationen und Ende einer sozialpädiatrischen Laufbahn in Deutschland, Dissertation, Berlin 2003.
3 Reinhold, Anna-Maria: Thekla Landé (1864-1932), Kommunalpolitikerin, in: Brychta; Reinhold; Mersmann, S. 49-86.
S. auch die Kurzbiografie zu Thekla Landé von Elke Brychta bei www.wupperfrauen.de.
4 Czempin, Charlotte, geb. Landé: Tonbandaufnahmen, 1977. Ihr Mann Herbert Czempin führte an ihrem Lebensende lebensgeschichtliche Interviews.
5 S. Thekla Landé bei www.wupperfrauen.de mit weiterführenden Quellen.
6 Czempin, Tonbandaufnahmen 1977.
7 Daub; Lennert, S. 102. Dort wird berichtet, dass Lotte Landé auch andere Fächer studierte wie Nationalökonomie, Musikwissenschaften u.a.
8 S. Brychta, Elke: Kinderheilkunde, in: Brychta; Reinhold; Mersmann; S. 124-128. Dort auch weiterführende Quellenangaben.
9 Über das Leben ihrer Familienangehörigen gibt das Buch Brychta, Elke; Reinhold, Anna-Maria; Mersmann, Arno: mutig.streitbar.reformerisch. Die Landés. Sechs Biografien 1859-1977, Essen 2004 viele Einblicke. Darin haben auch Nachfahren der Familie Landé eigene Beiträge eingebracht und Einblicke in ihr Leben gegeben, das geprägt war von der NS-Verfolgungsgeschichte mit Auswirkungen auf die übernächste Generation.
Mutter Thekla starb 1932, Vater Hugo hat wahrscheinlich 1936 im Genfer See Selbstmord begangen, Bruder Alfred konnte bereits 1931 in die USA auswandern, Bruder Franz wurde im KZ Auschwitz umgebracht, Schwester Eva gelang auch die Flucht in die USA.
Abbildungen
Lotte Landé, 1905, Familienbesitz Landé, mit freundlicher Genehmigung
Lotte mit ihrem Vater Hugo Landé, Familienbesitz Landé, mit freundlicher Genehmigung
Verortet wurde Lotte Landé in der Luisenstraße 85 in Wuppertal-Elberfeld.