Foto: © Umfangreiches Archivmaterial der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal. s.u.
Cläre Tisch bzw. Dr. Klara Tisch
Cläre Tisch1 wurde am 14. Januar 1907 in Elberfeld (heute Wuppertal, Grünstr. 27) geboren. Sie war eine deutsch-jüdische Wirtschaftswissenschaftlerin, die am 31.07.1931von Prof. Dr. Joseph Alois Schumpeter promoviert wurde. Am 10.11.1941 wurde sie, gemeinsam mit ihren Schwestern, ihrem Schwager und ihrer Nichte nach Minsk, Weißrussland, deportiert und ermordet. Als Todesdatum wird der 15.11.1941 vermutet.
Für sie und ihre Familienangehörigen – als Opfer des Holocaust / der Shoah – sind seit 2008 in Wuppertal, Neumarktstr. 46 – der letzte reguläre Wohnort -, Stolpersteine2 verlegt.
Cläre Tisch ist als mittlere von drei Töchtern (*1904, 1907, 1914; = die jüngste Schwester Gerda war gehörlos) des Ehepaares Leo und Adele Tisch in Elberfeld geboren. Der Vater war Kaufmann in Elberfeld und als „Eier-Tisch“ bekannt. Er hatte eine angesehene Position in der jüdischen Gemeinde, in die die Familie integriert war. Über die Mutter ist wenig bekannt. Cläre Tisch scheint eine materiell abgesicherte Kindheit und Jugend gehabt zu haben. Sie besuchte ein Lyzeum in Elberfeld (1913-1920) und anschließend die realgymnasiale Studienanstalt in Unterbarmen (1920-1926) mit dem Abschluss des Abiturs 1926. Von 1926 bis 1929 studierte sie in Bonn-Genf-Berlin-Bonn und legte 1929 ihr Diplom in Volkswirtschaftslehre ab.
1931 promovierte sie in Bonn bei dem renommierten Ökonom Joseph Alois Schumpeter mit einer Arbeit über „Wirtschaftsrechnung und Verteilung im zentralistisch organisierten sozialistischen Gemeinwesen“. Ihre Dissertation gilt als „bemerkenswerte Leistung“ bei anerkannten Ökonom*innen und machte sie zu einer Vorläuferin der sogenannten „neoklassischen Sozialisten“3. Sie war in dieser Zeit eine der wenigen weiblichen Wirtschaftswissenschaftlerinnen: auch deshalb kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Cläre Tisch war eine Lieblingsschülerin von Prof. Schumpeter, der sie förderte und bei ihr eine vielversprechende wissenschaftliche Zukunft erwartete. Eine wissenschaftliche Laufbahn blieb ihr jedoch aufgrund der Diskriminierung und Entrechtung jüdischer Student*innen und Akademiker*innen ab 1933 versagt.
Bis 1933 arbeitete sie wissenschaftlich an der Universität Bonn, leitete wirtschaftswissenschaftliche Repetitorien und publizierte zwei weitere Bücher. Parallel arbeitete sie als Sekretärin des Volkswirtschaftlers Arthur Spiethoff. Ab 1933/1934 durfte sie als Jüdin nicht mehr an der Universität arbeiten. Im Mai 1934 meldete sie ihren Wohnsitz wieder in Wuppertal-Elberfeld an und wohnte mit ihren Schwestern, ihrem Schwager und ihrer Nichte im Elternhaus in der „Hermann-Göring-Str. 46“, der heutigen Neumarktstraße und vormaligen Walther-Rathenau-Straße. Sie arbeitete in Köln als Stenotypistin und danach als Kontoristin in einem Solinger Schuhgeschäft. Von 1936 bis 1941 war sie bei der Zentralstelle für jüdisches Pflegestellenwesen und Adoptionsvermittlung des Jüdischen Frauenbundes (JFB), Wuppertal-Elberfeld, beschäftigt.
Ihre Arbeit füllte Cläre Tisch mit großem Engagement für die ihr anvertrauten Kinder aus. Vermutet wird, dass sie u.a. für „die Berichterstattung über die jeweils aktuelle Rechtsprechung mit Bezug zum Familienrecht verantwortlich war“. Sie hielt auch Sprechstunden ab, und wenn sie feststellen musste, dass es kaum eine Perspektive für ein Kind gab, ging ihr das auch persönlich sehr nahe.
In der Pogrom-Nacht 9./10.11.1938 versuchte sie Einrichtungsgegenstände der Elberfelder Synagoge zu retten (Spediteur Eduard Ludwig, Zeitzeugenaussage von 19625). Das Archiv der Elberfelder Synagoge verbrannte, darunter auch die Unterlagen zur Arbeit des Jüdischen Frauenbundes. 1939 waren sie und ihre Schwestern durch das Gesetz über die „Anmeldung des Vermögens von Juden“ gezwungen, Wertgegenstände abzugeben. Im April 1939 mussten Cläre und Gerda Tisch (sowie Louis Leo, Arnhild Adele und Maria Marcus) zwangsweise in eines der Wuppertaler „Judenhäuser“ umziehen (Distelbeck 21).
Bis zu ihrer Deportation am 10.11.1941 stand sie in brieflichem Austausch mit ihrem ehemaligen Professor J.A. Schumpeter, der 1932 an die Harvard University in Cambridge, Massachusetts, USA, gegangen war. Er hatte für sie sogar eine Bürgschaftserklärung abgegeben, die ihr eine Ausreise in die USA ermöglicht hätte. Aber zunächst ließ Cläre Tisch wohl mehrere Möglichkeiten zur Emigration ungenutzt. Man vermutet, dass sie die ihr anvertrauten Waisenkinder und ihre Familienangehörigen, insbesondere vielleicht auch ihre jüngere gehörlose Schwester Gerda nicht im Stich lassen wollte.
Im achten überlieferten Brief an Prof. J. A. Schumpeter berichtet sie von ihren Überlegungen und ihren Bemühungen, das Land zu verlassen, und beschreibt ihre aussichtslose Lage:
Cläre Tisch an J. Schumpeter, W.-Elberfeld, Dienstag, 14. Februar 1939, maschinenschriftlich
Wuppertal-Elberfeld, 14.2.39 | Hermann Göringstr. 46
Lieber Herr Professor,
wenn Sie wüßten, wenn Sie ermessen könnten, wie ich mich über Ihren Brief gefreut habe, was er für mich bedeutet!
Nicht wegen der Bürgschaft, die ich ja noch lange nicht ausnutzen kann, sondern weil ich daraus Ihr Verständnis für meine Situation, Ihr Mitgefühl verspüre. Das*) [[nachträgliche handschriftliche Einfügung am Ende der Seite: * und das Bewusstsein, daß es draussen in der Welt einen Menschen gibt, der mir helfen will]] ist es, was mir soviel gibt, was Hoffnung und Lebensmut in mir stärkt. Und dafür bin ich Ihnen zu innigstem Dank verbunden. Kennen Sie das System der Wartenummern in Stuttgart?6 Es ist eine schlimme Sache. Jeder, der will, kann [s]ich dort registrieren lassen, ohne jede Aussicht auf eine Bürgschaft. Ich habe das übrigens auch getan, wenn auch sehr spät. Hätte ich mich jetzt erst registrieren lassen, so hätte ich etwa die Nummer 50000, während ich jetzt 38033 habe. Die Zählung begann etwa im März/April vorigen Jahres, und bis jetzt sind 5300 Nummern drangekommen. Nun kann man allerdings in Zukunft damit rechnen, daß eine ganze Reihe von Nummern ausfallen, weil ihre Besitzer keine Bürgschaft haben oder inzwischen wo anders sesshaft geworden sind und auf ihre Einwanderung nach USA verzichten. Aber man muß doch mit rund 6000 Nummern beim Stuttgarter Konsulat pro Jahr rechnen. Ich habe also mindestens 5 ½ Jahre Wartezeit vor mir. Das ist schrecklich, aber jetzt weiß ich doch wenigstens, dass das Warten nicht vergeblich ist, und daß ich, wenn ich irgendwo im europäischen Ausland einmal eine Haushaltstelle annehme, dort nicht ewig bleiben muß, sondern die Möglichkeit7 habe, bei Erreichung meiner Wartenummer nach USA einzuwandern. Auch wenn man dort als Hausangestellte anf[ä]ngt, so kann man in USA doch weiterkommen, was in europäischen Ländern unmöglich ist, da man dort als Hausangestellte nur für diese Arbeit die Arbeitserlaubnis bekommt, nicht aber für etwas anderes.Ihren Vorschlag, zunächst als Hausangestellte nach USA zu kommen, würde ich gern und dankbar annehmen, aber auch als Hausangestellte ist man Quoteneinwanderer. Mir war das aus Erfahrungen Bekannter schon lange bekannt, aber Ihre Bemerkung machte mich stutzig. Außerdem behauptete heute in meiner Sprechstunde eine Besucherin ebenfalls, sie könne als Hausangestellte als non-quota-Immigrant nach USA kommen. Da ich zufällig mit dem Hilfsverein in Essen zu telefonieren hatte, benutzte ich die Gelegenheit, mich über diesen Punkt zu vergewissern, und erhielt die betrübliche Gewißheit, daß es mit der Bevorzugung von Hausangestellten nichts sei. Deshalb8 erwog ich ja seinerzeit die Möglichkeit einer Anstellung als Lehrerin an einer Hochschule, weil das wohl außer der Quote gehen mag, aber ich verstehe sehr gut, daß das unmöglich ist.
Ueber meiner nächsten Zukunftspläne bin ich noch ganz im Unklaren. Ich wurstele weiter. Im Augenblick brauchen mich meine Betreuten noch, auch die Adoptivkinder. Aber es kann sich ja doch im ganzen wohl nur noch um eine sehr absehbare Zeit handeln. Es ist ja alles nur Abbau, Liquidierung, eine im Grunde ungesunde Situation und Geisteshaltung, der man nicht rasch genug entfliehen kann, wenn man noch aufbaufähige Kräfte in sich spürt. Und das tue ich[.]
Lieber Herr Professor, ich muß Ihnen noch einmal sagen, daß die Hilfe, die Sie mir geboten haben – auch wenn Sie sie nicht für nennenswert oder zureichend halten –
doch für mich eine große seelische Erleichterung darstellt. Vielleicht zeigt Ihnen meine Situation in einem Einzelfall, wie schwer die Frage für uns alle ist. Abbau, keine Zukunft, keine Planungsmöglichkeit, nur Auflösung, nur immer weniger, keine produktive Arbeit – demgegenüber der heiße Wunsch, sich das alles wieder zu erringen, und dieser glühende Wunsch eingezwängt in haushohen Quotennummern, in Einwanderungssperren, Vorzeigegeldern, Verwandtenbürgschaften.
Es ist der seelische Druck der ausweglosen Situation, dem man zu erliegen glaubt – besonders in meiner an sich so schönen Arbeit, die zur Verzweiflung werden
kann, wenn man nie helfen, nie einen guten Rat geben, nie einen Ausweg zeigen kann, weil eben keiner da ist. Man muß sich einfach ein dickes Fell anschaffen, um
der Sprechstunde gewachsen zu sein – aber immer hält das dicke Fell auch nicht. Nein, ich wollte nicht klagen, aber ein kurzes Wort war mir ja erlaubt, nicht wahr?
Mein Päckchen ist ja durch Ihren Brief so viel leichter geworden, daß ich hoffe, es jetzt frohen Mutes wieder eine ganze Weile tragen zu können.
Mit herzlichem Dank
Ihre
Cläre Tisch9
Krebs, Sophia V.; Briefe von Cläre Tisch an Joseph A. Schumpeter, 1933–1941,
S. 33–38; Stand 9.1.24
Wie Cläre Tisch in diesem Brief eindrücklich schildert, hatte sie keine Chance mehr, aus Deutschland zu emigrieren.
In ihrem letzten Brief vom 08. November 1941 schrieb sie an J.A. Schumpeter, „Ich gehe übermorgen aus Wuppertal fort und weiß noch nicht, wie meine neue Adresse sein wird, weiß auch nicht, ob ich sie Ihnen mitzuteilen Gelegenheit haben werde“10.
Man nimmt an, dass Dr. Cläre bzw. Dr. Klara Tisch und ihre Familie im November 1941 (evtl. am 15. November 1941) im Wald von Maly Trostenez bei Minsk ermordet wurden.
Unter anderem auf Initiative unseres Vereines Wupperfrauen e.V. hin hat Cläre Tisch am 9. Juni 2024 an der Begegnungsstätte Alte Synagoge eine Gedenktafel erhalten (mehr zur Veranstaltung hier).
Text: Claudia Müller, freigegeben von Frau Dr. Ulrike Schrader, Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal (23.08.2022);
überarbeitet von Claudia Müller, Januar/Februar 2024
Quellen:
1 Hier und im Folgenden: Umfangreiches Archivmaterial der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal, Genügsamkeitstraße/Ecke Krugmannsgasse, 42105 Wuppertal, alte-synagoge-wuppertal.de
Forschungsbericht von Susanne Abeck, M.A., Essen
Material zur Verfügung gestellt von Frau Dr. Ulrike Schrader (17.08.2022)
https://de.wikipedia.org/wiki/Cläre_Tisch; vom 05.07.2022
https://yvng.yadvashem.org/index.html (dortige Datenbanksuche nach Namen und Ort) vom 24.07.2022
https://www.gedenkbuch-wuppertal.de/de/person/tisch-0; vom 24.07.2022
https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de982261; vom 24.07.2022
2 http://www.stolpersteine-wuppertal.de/cms/front_contentb81a.html?idcat=10&idart=164&lang=1 vom 24.07.22
Mit freundlicher Genehmigung vom Verein Stolpersteine Wuppertal, Mail von Prof. Dr. Manfred Brusten, 24.07.2022
3 Hagemann, Harald (Hg): Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Marburg 1997; zu Cläre Tisch
4 Weissberg, Yvonne; Der Jüdische Frauenbund in Deutschland 1904-1939: Zur Konstruktion einer weiblichen jüdischen Kollektiv-Identität. [Diss.] Universität Zürich, 2018.
https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/150729/1/150729.pdf; vom 24.07.22
https://doi.org/10.5167/uzh-150729; vom 24.07.22
https://de.wikipedia.org/wiki/Jüdischer_Frauenbund vom 13.02.24
http://www.berlin-judentum.de/frauen/jfb.htm vom 13.02.24
https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/juedischer-frauenbund#actor-biography vom 15.02.24
5 Schrader, Ulrike (Hg): Antworten aus der Emigration, Briefe und andere Quellen jüdischer Flüchtlinge aus Wuppertal in der Sammlung Ulrich Föhse; Wuppertal Selbstverlag 2019; hier: Brief des Zeitzeugen Eduard Ludwig von 1962, Spediteur, S. 34 – 35, Eduard Ludwig schildert in seinem Brief u.a., wie er Clara Samuel und Dr. Cläre Tisch dabei geholfen habe, Einrichtungsgegenstände der Elberfelder Synagoge vor der kompletten Vernichtung zu retten.
6 Beim Amerikanischen Konsulat in Stuttgart konnte offenbar über eine Wartenummer eine Auswanderung in die USA beantragt werden. Vgl. Gedenkbuch Augsburg, Eintrag „Max Bacharach“, URL: https://gedenkbuch-augsburg.de/en/biografien/max-bacharach [Zugriff: 18.12.23].
7 Möglichkeit korr. aus Möglichkeite
8 Deshalb korr. aus Deshalbt
9 Krebs, Sophia Victoria: Transkription Briefe von Cläre Tisch an Joseph A. Schumpeter, 1933 – 1941, S. 33 – 38; Stand 9.1.24
10 https://statistik-des-holocaust.de/list_ger_nwd_411108.html; vom 18.01.24, Deportationslisten des Zuges von Wuppertal-Steinbeck nach Minsk und Archivmaterial siehe Fußnote 1.