Aino Marjatta Henßen in jungen Jahren, Entstehungsjahr unbekannt, mit freundlicher Genehmigung von Rosmarie Honegger
Aino Henßen
Aino Marjatta Henßen wurde am 12. April 1925 in Elberfeld geboren und starb am 29. August 2011 in Marburg. Sie war das zweite von drei Kindern des Ehepaars Gottfried Henßen (deutscher Erzählforscher) und der Finnin Toini Saraste. Ihre jüngere Schwester starb im Alter von vier Jahren, ihr älterer Bruder fiel im Krieg.
In ihren Wuppertaler Jahren lebte sie mit ihrer Familie in der Kantstraße 10 in Elberfeld. Aino Henßen besuchte von 1931 bis 1943 zunächst eine Grundschule und das Lyzeum West in Elberfeld, dann die Staatliche Getraudenschule in Berlin-Dahlem (eine Höhere Töchterschule), denn die Familie war zwischenzeitlich nach Berlin gezogen. Dort legte Henßen 1943 auch das Abitur ab. Von April 1943 bis Mai 1944 musste sie zunächst Arbeitsdienst leisten, studierte an der Universität Freiburg im Breisgau Biologie, wurde dann aber im September 1944 zum Kriegseinsatz einberufen1 – offenbar ein Versehen, da ihr finnischer Vorname unbekannt war, Namen mit o-Endung in der deutschen Sprache als männlich gedeutet werden und sie vermutlich deshalb irrtümlich als Mann eingezogen wurde.2 Offenbar musste sie diesen Dienst aber nicht ableisten.3 1946 zog die Familie (über Oberaula, Hessen) nach Marburg in eine Wohnung in der Biegenstraße 52, die bis zu ihrem Tod im Jahr 2011 die Wohnung von Henssen blieb.
Sie setzte ihr kriegsbedingt unterbrochenes Studium (Botanik, Zoologie, Chemie, Geologie, Geografie) an der Universität Marburg fort, wo sie 1953 mit einer Arbeit zur Blüte der Wasserpflanze Spirodela polyrhiza in den Fächern Botanik, Zoologie und Chemie promoviert wurde. Ihr botanisch-mykologisches Autorinnenkürzel lautet „HENSSEN“.
Bild links: Aino Henssen mit Volkmar Wirth in der Rhön, 1975, mit freundlicher Genehmigung von Volkmar Wirth
Bild rechts: Aino Henssen (Mitte) mit Volkmar Wirth (links) und Gerhard Follmann (rechts) in der Rhön, 1975, mit freundlicher Genehmigung von Volkmar Wirth
Ein bewegtes Forscherinnenleben
Von 1953 an bis 1965 forschte Aino Henßen an vielen Instituten und Orten, so am Institut für Obstbau der Universität Bonn, am Institut für Bakteriologie der Biologischen Bundesanstalt in Berlin-Dahlem, im Botanischen Museum der Universität Helsinki, am Botanischen Institut der Universität Marburg, am Institut für Systematische Botanik der Universität Uppsala, am Botanischen Institut der Universität Boulder, am Farlow Herbarium der Harvard University und am Botanischen Institut der Universität Toronto.
Auf einer Forschungsreise in Finnland erwachte ihr Interesse an Flechten, denen sie danach fast ihr gesamtes Arbeitsleben widmete.4 Flechten (Lichen) sind eine besondere Lebensform. Flechten sind eine taxonomisch heterogene Gruppe von ernährungsphysiologisch spezialisierten Pilzen, die in ihrem Lager (einem Geflecht aus Pilzfäden) winzige Algen- oder Cyanobakterienzellen einbauen und sich von deren Photosyntheseprodukten ernähren. Der Name der Flechte bezieht sich auf den Pilzpartner. Sie sind in der Lage, Lebensräume zu besiedeln, in denen Pilze oder Algen nicht alleine überleben könnten. Flechten wachsen sehr langsam – oft nur einen Millimeter pro Jahr – und können mehrere hundert Jahre alt werden. Aino Henßen galt als absolute Expertin für Fruchtkörperentwicklung, kleine schwarze Flechten und Actinomyceten.
Im Mai 1965 habilitierte sie sich und erhielt die Venia Legendi (also die akademische Lehrbefugnis und die Voraussetzung für eine Professur) für Systematische Botanik an der Universität Marburg. 1969 wurde sie zur Akademischen Oberrätin und 1970 schließlich zur Professorin (H1) für Thallophytenkunde (cryptogamic botany) ernannt. Henßen ist eine der ersten weiblichen Flechtenkundler mit einer Professur und eine Koryphäe der Flechtenforschung bzw. Lichenologie. 1974 veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem ersten Doktoranden Hans Martin Jahns das Buch Lichenes. Eine Einführung in die Flechtenkunde, das als Klassiker gilt und lange Zeit auch über den deutschsprachigen Raum hinaus als Standardwerk diente. 1978/1979 war sie außerdem Dekanin des Fachbereichs Biologie in Marburg und unternahm bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1990 zahlreiche Forschungsreisen, etwa nach Argentinien, Chile, Uruguay, Südafrika und zu den Prince Edwards-Inseln.
Bild links: Aino Henssen vor einem Wanderalbatross am Nest, Albatross Lake auf der Marion-Insel (Indischer Ozean), 21. April 1982, mit freundlicher Genehmigung von Hannes Hertel.
Bild rechts: Aino Henssen am Mikroskop, Marion-Insel, 1982, mit freundlicher Genehmigung von Hannes Hertel.
Attention please, woman inside!
Überhaupt scheint Henssen mit großer Freude zu Expeditionen aufgebrochen zu sein und scheute dabei keine Mühen, keine überfluteten Fahrwege und keine Alligatoren. Ihr oft männlich gedeuteter Vorname führte zu Irritationen und auch zu lustigen Begegnungen, die sie – eine der ganz frühen naturwissenschaftlichen Professorinnen – einer ihrer Studentinnen zufolge mit viel Humor nahm. Die Studentin Rosmarie Honegger, die später selbst einen Lehrstuhl für Biologie innehatte, berichtete:
„Insbesondere über ihre dank Missverständnis möglich gewordene Teilnahme an einer Antarktisexpedition hat sie sich schelmisch gefreut: als sich das internationale Forscherteam in Patagonien zum Einschiffen traf und diese Herren feststellen mussten, dass sich der vermeintlich männliche Expeditionsteilnehmer aus Deutschland als Frau entpuppte, liess sich Aino Henssen nicht abwimmeln. Was denn der wahre Grund sei, wieso man sie als Frau nicht mitreisen lassen wolle, wollte sie wissen. Nach einigem Herummucksen kam heraus: es gebe keine sanitäre Infrastruktur für Damen. Toilette ist Toilette und Dusche ist Dusche, befand Aino pragmatisch und versprach, an die jeweilige Türe einen Zettel zu hängen mit der Warnung: Attention please, woman inside!“
Ihr männlich gedeuteter Vorname führte offenbar immer wieder zu Irritationen, denn Henßen amüsierte sich Honegger zufolge auch über einen anderen „Fachkollegen, der sie stets als Herr Dr. anschrieb und auf ihre kurze Mitteilung hin, Aino sei ein finnischer Mädchenname, zu seiner Frau sagte, das sei jetzt doch sonderbar, dieser deutsche Lichenologe trage einen finnischen Mädchennamen!“6 Die gelegentlichen Verwirrungen wegen ihres Vornamens hinderten sie aber nicht am Erfolg. Aus dem Labor der einflussreichen Wissenschaftlerin stammte nicht nur bahnbrechende Forschung zur Ontogenese und Systematik von Fruchtkörpern, sondern es folgten auch viele ihrer Studierenden ihrem Weg und wurden selbst erfolgreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Henssen hat keine eigene Familie gegründet, doch der Kreis ihrer Freundinnen, Freunde und wissenschaftlichen Familie umgab sie stets.
Sie wird von Wegbegleitern und (ehemaligen) Studierenden als sehr hilfsbereite, unkomplizierte, enthusiastische, dynamische, produktive, gastfreundliche, großzügige und passionierte Forscherin beschrieben. In Berichten wird gerne „in grosser Dankbarkeit an spannende Fachgespräche bei reichlich Speis und Trank in Aino Henssens gemütlicher Wohnküche oder bei Kaffee und Kuchen unter blühenden Pflanzen im schönen Wintergarten“ erinnert.7 Schon früh entwickelte Aino Henßen innovative Methoden und Ansätze und forschte auch lange nach ihrer Pensionierung weiter. Sie sammelte unermüdlich Flechten, sodass ihre private Sammlung (die sie lange Zeit in ihrer Wohnung in Marburg aufbewahrte) rund 40.000 Exemplare zählte. Ihre Privatsammlung spendete sie später dem Finnischen Naturkundemuseum in Helsinki.
In ihren letzten Lebensjahren wurde sie von gesundheitlichen Problemen geplagt und musste schließlich in ein Pflegeheim übersiedeln, wo sie – nicht mehr zur Forschung fähig – den Lebenswillen verlor und am 29. August 2011 im Alter von 86 Jahren friedlich einschlief. Ihre Urne wurde im Grab ihrer Eltern beigesetzt, unter einer Birke, die sie selber 40 Jahre zuvor für ihre Mutter gepflanzt hatte.8
Durch ihre zahlreichen Publikationen sowie Doktorandinnen und Doktoranden, die sich inzwischen selbst in der Forschung verdient gemacht, wirken sie und ihr wissenschaftliches Erbe weiter.
Henssens wissenschaftliche Leistungen
Aino Henßen hat im Laufe ihres Forscherinnenlebens über 120 Fachbeiträge veröffentlicht, darunter das zusammen mit Hans Martin Jahns verfasste Standardwerk: Lichenes. Eine Einführung in die Flechtenkunde (Stuttgart 1974). Mindestens elf Taxa sind nach ihr benannt worden, darunter Caloplaca hensseniana (1990), Nephroma hensseniae (1987) oder Ainoa (2001), was ein beredtes Zeugnis der großen Wertschätzung ihrer Person und Leistung im fachlichen Kollegium darstellt. In der Biologie ist ein Taxon eine Gruppe von Lebewesen, die sich durch gemeinsame Merkmale beschreiben und von anderen Gruppen unterscheiden lässt. Außerdem wurde ihr 1992 die Acharius-Medaille verliehen und ein Band der Bibliotheca Lichenologica (Jahns 1990) gewidmet.
Ihr zu Ehren vergibt die International Association for Lichenology (IAL) regelmäßig den nach ihr benannten „Henssen Award“ an vielversprechende Nachwuchsforscherinnen und -forscher. Die große Marburger Flechtensammlung (Herbarium Marburgense, mittlerweile aus über 90.000 Pilzen und Flechten bestehend) geht auf die von Henßen angelegte Sammlung zurück.
1 Vgl. Eintrag: „Henssen, Aino Marjatta“, in: Hessische Biografie, URL: https://www.lagis-hessen.de/pnd/135978351 (Stand: 28.11.2023, Zugriff: 13.12.2024).
2 Vgl. Rosmarie Honegger: Aino Marjatta Henssen (1925–2011). In: The Bryologist 115/2 (2012), S. 350–353, hier: S. 351.
3 Der Aussage von Rosmarie Honegger zufolge, die diese Information von Henßens Cousine bestätigen ließ, hat Henßen „lachend vom Aufgebot zum Wehrdienst erzählt, nicht aber, dass sie ihn wirklich hätte leisten müssen“ (E-Mail vom 9.1.2025).
4 Vgl. Rosmarie Honegger: Aino Marjatta Henssen (1925–2011). In: The Bryologist 115/2 (2012), S. 350–353, hier: S. 351.
5 Rosmarie Honegger: IN MEMORIAM Prof. Dr. Aino Marjatta Henssen (1925-2011). In: Meylania 47 (2011), S. 7–10, hier: S. 9.
6 Ebd.
7 Ebd., S. 10.
8 Siehe Rosmarie Honegger: Aino Marjatta Henssen (1925–2011). In: The Bryologist 115/2 (2012), S. 350–353, hier: S. 352–353.
Quellen:
Mit herzlichem Dank an Prof. em. Dr. Rosmarie Honegger, Prof. Dr. em. Volkmar Wirth und Prof. em. Dr. Hannes Hertel für die Hilfsbereitschaft, die freundlichen Auskünfte, die Überlassung der Fotos und die fachliche und persönliche Unterstützung.
- Eintrag: „Henssen, Aino Marjatta“, in: Hessische Biografie, URL: https://www.lagis-hessen.de/pnd/135978351 (Stand: 28.11.2023, Zugriff: 13.12.2024).
- Rosmarie Honegger: IN MEMORIAM Prof. Dr. Aino Marjatta Henssen (1925-2011). In: Meylania 47 (2011), S. 7–10.
- Rosmarie Honegger: Aino Marjatta Henssen (1925–2011). In: The Bryologist 115/2 (2012), S. 350–353.
- Rosmarie Honegger: Aino Marjatta Henssen. In: International Lichenological Newsletter 44/2 (2012) S. 12–14.
- Hans Martin Jahns: Aino Henssen. In: International Association for Lichenology, URL: https://ial-lichenology.org/awards/acharius_henssen/ (Stand: 2022, Zugriff: 13.12.2024).
- Carolina Martinez Pulido: Aino M. Saraste Henssen, botánica alemana apasionada por los líquenes, in: Mujeres con ciencia, URL: https://mujeresconciencia.com/2024/11/20/aino-m-saraste-henssen-botanica-alemana-apasionada-por-los-liquenes/ (Stand: 20.11.2024, Zugriff: 13.12.2024).
- Persönliche Auskünfte durch Rosmarie Honegger, Volkmar Wirth und Hannes Hertel.
Verortung:
Kantstr. 10, Elberfeld